Jean Firges, Vom Osten gestreut, einzubringen im Westen.
Jüdische Mystik in der Dichtung Paul Celans, 180 Seiten,
Sonnenberg Verlag, Annweiler 1999
Albert Camus bezeichnete den Freitod als das einzige
ernstzunehmende Problem in der Philosophie. Der Lyriker, Philosoph
und Mystiker Paul Celan zerbrach daran, stürzte sich in die
Seine. Er hinterließ Botschaften, die verschlüsselt das
zu erreichen suchten, was er zeitlebens nicht auszusprechen
vermochte: Als Atheist nach dem Holocaust zu einer Transzendenz
zurückzufinden, seine Würde wiederzuerlangen und trotz des
Schmerzes weiterzuleben. Dieses Überschreiten der Grenzen des
sinnlich Wahrnehmbaren suchte er in der Sprache.
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Celan, der als Paul Antschel 1920 in der Bukowina geboren
wurde, suchte die „Königswürde“ des Menschen mit den
Sprachtheorien und Bildmetaphern der Kabbalisten wieder
herzustellen. Er entdeckte für sich den ostjüdischen
Chassidismus (dem seine Mutter nahestand), der in den Wörtern
eine göttliche Logik, ja, einen Offenbarungsort sieht. Diese
"Königswürde" wurde für Celan zum
Hauptthema seines Denkens und Dichtens. Der vorliegende Band war
ursprünglich als ein abgeschlossenes Kapitel in Jean Firges
"Den Acheron durchquere ich. Einführung in die Lyrik Paul
Celans" ( Stauffenburg Verlag, 1998) geplant. Es nahm jedoch
einen solchen Umfang an, dass Firges der Mystik in Celans Dichtung
einen eigenen Band widmete. Hier stellt der Autor das innere
Mit-sich-Kämpfen des Dichters vor, analysiert, erklärt und
dokumentiert dessen verzweifelten Versuch, als Nichtgläubiger
seine jüdischen Wurzeln zu finden und sich von seiner
"Überlebensschuld" zu befreien ohne Gott von dessen
Schuld entlassen zu müssen, den Holocaust zugelassen zu
empfehlen.
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Ganz besonders nach dem Sechs-TageKrieg 1967 und seinem Besuch
in Israel 1969 verstärkte sich Celans Neubesinnung auf seine
Ursprünge. Sie wurde zu einer Wirklichkeitssuche, einer Suche
nach Heimat. Firges schreibt von Celans "Hebraismen [als]
Ausdruck und Gestalt seines pneumatisch verstandenen [vom Geiste
Gottes erfülltem] Judentums." Er erkennt in Paul Celan
einen "atheistischen Mystiker, der ein tiefes Eindringen in das
>Sein des Seienden< anvisiert". Firges bezeichnet ihn als
"Gerechten im Sinne der jüdischen Mystik". Celans
Lyrik sei ein "stilles Geschrei", in dem er mit Gott ins
Gericht gehe - wie in folgenden Auszügen aus dem Gedicht
Tenebrae (Finsternis) deutlich wird: "Nah sind wir, Herr, nahe
und greifbar. [. . .]/Bete, Herr, bete zu uns, wir sind nah. [. . .]
Zur Tränke gingen wir, Herr. Es war Blut, es war, was du
vergossen, Herr.[. . .]". Für Celan ist der jüdische
Gott kein "Vater-Gott", sondern ein strafender,
unerbittlicher Gott, dem sich seine Kinder bis in den Tod zu beugen
haben, den er gnadenlos wieder und wieder über sie
verhängt. Israel hat sich für seinen Gott zu opfern. Ganz
so, als hätte das "Auserwählte Volk" seine
Position zu bezahlen. Celan beklagte dies und somit seine eigene
Rolle in diesem unausweichlichen, immer wiederkehrenden Schicksal.
Aber er glaubte auch, da Israel sich für seinen Gott aufopfere,
habe es Anrecht auf Verehrung von Seiten Gottes.
"Lyrik ist Mystik" habe Celan gesagt. Dieser
Anspruch bringe ihn, so Firges, in unmittelbare Nähe zur
Philosophie und Theologie - auf der ständigen Suche nach dem
Absoluten. Denn wieder und wieder stellte Celan die Frage nach den
ersten und letzten Dingen. Er schuf in seiner Dichtung Analogien zur
zerstörten Welt des Ostjudentums und zu seinem eigenem
atheistischen Denken im Schatten des Holocaust. Nur so könne er
die Wahrheit finden. Und nur so könne er das kulturelle Gut der
ermordeten ostjüdischen Chassiden vor der
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Vergessenheit bewahren. Mehr noch: Celan wollte sich selbst
inmitten der Zerstörung wiederfinden und seiner ermordeten
Mutter ein Denkmal setzen. Und tatsächlich: Firges gibt zu,
dass er ohne die chassidische Metaphorik in der Lyrik Celans die
Kabbala vermutlich nie kennengelernt, geschweige denn sich mit ihr
befasst hätte. Der Leser, der vielleicht bisher auch keinen
Zugang zur jüdischen Mystik gefunden hat, geht mit Firges auf
Entdeckungsreise und erfüllt dabei Celans innerstes Anliegen.
Der Kreis schließt sich. Firges: "Dichten heißt
für Celan, Zeugnis-Geben von der Wahrheit. Dieses Zeugnis geben
hat es schwer in einer Welt, in der das >hundertzüngige<
Gerede herrscht, in der die Lüge das Geschäft der Welt
bestimmt. "Vom Osten gestreut, einzubringen im Westen" ist
kein leichtes Buch. Es setzt voraus, dass sich der Leser von seinen
bisherigen philosophischen und religiösen Vorstellungen
distanziert, um in eine Welt einzutauchen, der ein Hauch von
göttlicher Mystik anhängt, auf die eine kleine,
auserwählte Gefolgschaft beharrlich baut. Es ist
bewundernswert, wie ernsthaft sich Firges mit der schwierigen Mystik
der Kabbalisten auseinandergesetzt hat. Sein profundes Wissen zeugt
von ehrlichem Respekt gegenüber den jahrtausendealten
Überlieferungen. Da für Celan das jüdische Schicksal
für das Menschenschicksal überhaupt steht, wird der Leser,
egal welcher Religion, direkt angesprochen: Das Fremde wird ihm
nahegebracht. Es geht um ihn. Doch das Fremde, das Celan für
sich zu entdecken suchte, blieb ihm letztendlich vorenthalten. Nach
seinem Israel-Besuch 1969 schrieb er einem Freund: "Siebzehn
Tage Israel. Wo soll ich jetzt hin mit diesem Dort?" Er konnte
keinen Platz für sich finden, weder in Israel noch in Paris.
Der Heimatlose blieb ohne Heimat. Er arbeitete sich ab,
"zackerte" wie er es nannte - bis er schließlich
resignierte. Paul Celans Leser verstehen den Ursprung seiner Wurzeln
und seiner Ängste beim Entschlüsseln der Gedichte ein
wenig mehr. Firges hilft ihnen dabei. Celan jedoch verzweifelte an
seiner nagenden Skepsis. "Wenn der Lauf des Schicksals durch
den Zufall regiert wird, dann ist alles der Beliebigkeit anheimge
stellt, dann ist unsere Deutung der Geschichte keinen Deut
wert", erklärt Firges. Und der Dichter? Er sei dann nur
der "Hofnarr eines imaginären Königs".
TEKLA SZYMANSKI
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