Hofnarr eines imaginären Königs

Buchrezension erschienen in dem Heft 153, 2000,
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der "Zeitschrift zum Verständnis des Judentums", die dreimonatlich in Frankfurt erscheint.

Jean Firges, Vom Osten gestreut, einzubringen im Westen. Jüdische Mystik in der Dichtung Paul Celans, 180 Seiten, Sonnenberg Verlag, Annweiler 1999

Albert Camus bezeichnete den Freitod als das einzige ernstzunehmende Problem in der Philosophie. Der Lyriker, Philosoph und Mystiker Paul Celan zerbrach daran, stürzte sich in die Seine. Er hinterließ Botschaften, die verschlüsselt das zu erreichen suchten, was er zeitlebens nicht auszusprechen vermochte: Als Atheist nach dem Holocaust zu einer Transzendenz zurückzufinden, seine Würde wiederzuerlangen und trotz des Schmerzes weiterzuleben. Dieses Überschreiten der Grenzen des sinnlich Wahrnehmbaren suchte er in der Sprache.

Celan, der als Paul Antschel 1920 in der Bukowina geboren wurde, suchte die „Königswürde“ des Menschen mit den Sprachtheorien und Bildmetaphern der Kabbalisten wieder herzustellen. Er entdeckte für sich den ostjüdischen Chassidismus (dem seine Mutter nahestand), der in den Wörtern eine göttliche Logik, ja, einen Offenbarungsort sieht. Diese "Königswürde" wurde für Celan zum Hauptthema seines Denkens und Dichtens. Der vorliegende Band war ursprünglich als ein abgeschlossenes Kapitel in Jean Firges "Den Acheron durchquere ich. Einführung in die Lyrik Paul Celans" ( Stauffenburg Verlag, 1998) geplant. Es nahm jedoch einen solchen Umfang an, dass Firges der Mystik in Celans Dichtung einen eigenen Band widmete. Hier stellt der Autor das innere Mit-sich-Kämpfen des Dichters vor, analysiert, erklärt und dokumentiert dessen verzweifelten Versuch, als Nichtgläubiger seine jüdischen Wurzeln zu finden und sich von seiner "Überlebensschuld" zu befreien ohne Gott von dessen Schuld entlassen zu müssen, den Holocaust zugelassen zu empfehlen.

Ganz besonders nach dem Sechs-TageKrieg 1967 und seinem Besuch in Israel 1969 verstärkte sich Celans Neubesinnung auf seine Ursprünge. Sie wurde zu einer Wirklichkeitssuche, einer Suche nach Heimat. Firges schreibt von Celans "Hebraismen [als] Ausdruck und Gestalt seines pneumatisch verstandenen [vom Geiste Gottes erfülltem] Judentums." Er erkennt in Paul Celan einen "atheistischen Mystiker, der ein tiefes Eindringen in das >Sein des Seienden< anvisiert". Firges bezeichnet ihn als "Gerechten im Sinne der jüdischen Mystik". Celans Lyrik sei ein "stilles Geschrei", in dem er mit Gott ins Gericht gehe - wie in folgenden Auszügen aus dem Gedicht Tenebrae (Finsternis) deutlich wird: "Nah sind wir, Herr, nahe und greifbar. [. . .]/Bete, Herr, bete zu uns, wir sind nah. [. . .] Zur Tränke gingen wir, Herr. Es war Blut, es war, was du vergossen, Herr.[. . .]". Für Celan ist der jüdische Gott kein "Vater-Gott", sondern ein strafender, unerbittlicher Gott, dem sich seine Kinder bis in den Tod zu beugen haben, den er gnadenlos wieder und wieder über sie verhängt. Israel hat sich für seinen Gott zu opfern. Ganz so, als hätte das "Auserwählte Volk" seine Position zu bezahlen. Celan beklagte dies und somit seine eigene Rolle in diesem unausweichlichen, immer wiederkehrenden Schicksal. Aber er glaubte auch, da Israel sich für seinen Gott aufopfere, habe es Anrecht auf Verehrung von Seiten Gottes.

"Lyrik ist Mystik" habe Celan gesagt. Dieser Anspruch bringe ihn, so Firges, in unmittelbare Nähe zur Philosophie und Theologie - auf der ständigen Suche nach dem Absoluten. Denn wieder und wieder stellte Celan die Frage nach den ersten und letzten Dingen. Er schuf in seiner Dichtung Analogien zur zerstörten Welt des Ostjudentums und zu seinem eigenem atheistischen Denken im Schatten des Holocaust. Nur so könne er die Wahrheit finden. Und nur so könne er das kulturelle Gut der ermordeten ostjüdischen Chassiden vor der

Vergessenheit bewahren. Mehr noch: Celan wollte sich selbst inmitten der Zerstörung wiederfinden und seiner ermordeten Mutter ein Denkmal setzen. Und tatsächlich: Firges gibt zu, dass er ohne die chassidische Metaphorik in der Lyrik Celans die Kabbala vermutlich nie kennengelernt, geschweige denn sich mit ihr befasst hätte. Der Leser, der vielleicht bisher auch keinen Zugang zur jüdischen Mystik gefunden hat, geht mit Firges auf Entdeckungsreise und erfüllt dabei Celans innerstes Anliegen. Der Kreis schließt sich. Firges: "Dichten heißt für Celan, Zeugnis-Geben von der Wahrheit. Dieses Zeugnis geben hat es schwer in einer Welt, in der das >hundertzüngige< Gerede herrscht, in der die Lüge das Geschäft der Welt bestimmt. "Vom Osten gestreut, einzubringen im Westen" ist kein leichtes Buch. Es setzt voraus, dass sich der Leser von seinen bisherigen philosophischen und religiösen Vorstellungen distanziert, um in eine Welt einzutauchen, der ein Hauch von göttlicher Mystik anhängt, auf die eine kleine, auserwählte Gefolgschaft beharrlich baut. Es ist bewundernswert, wie ernsthaft sich Firges mit der schwierigen Mystik der Kabbalisten auseinandergesetzt hat. Sein profundes Wissen zeugt von ehrlichem Respekt gegenüber den jahrtausendealten Überlieferungen. Da für Celan das jüdische Schicksal für das Menschenschicksal überhaupt steht, wird der Leser, egal welcher Religion, direkt angesprochen: Das Fremde wird ihm nahegebracht. Es geht um ihn. Doch das Fremde, das Celan für sich zu entdecken suchte, blieb ihm letztendlich vorenthalten. Nach seinem Israel-Besuch 1969 schrieb er einem Freund: "Siebzehn Tage Israel. Wo soll ich jetzt hin mit diesem Dort?" Er konnte keinen Platz für sich finden, weder in Israel noch in Paris. Der Heimatlose blieb ohne Heimat. Er arbeitete sich ab, "zackerte" wie er es nannte - bis er schließlich resignierte. Paul Celans Leser verstehen den Ursprung seiner Wurzeln und seiner Ängste beim Entschlüsseln der Gedichte ein wenig mehr. Firges hilft ihnen dabei. Celan jedoch verzweifelte an seiner nagenden Skepsis. "Wenn der Lauf des Schicksals durch den Zufall regiert wird, dann ist alles der Beliebigkeit anheimge stellt, dann ist unsere Deutung der Geschichte keinen Deut wert", erklärt Firges. Und der Dichter? Er sei dann nur der "Hofnarr eines imaginären Königs".

TEKLA SZYMANSKI



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