Zeitschrift: Krautgarten, Forum für junge Literatur, Nr.50, Juni 2007, S.78

UNTERWEGS ZU MELUSINE

Ein Roman blickt zurück auf eine verlorene Zeit des Leidens

In Österreich etablierte sich in der späteren Nachkriegszeit ein Genre, das die pittoreske Heimat der Berge in einem andern Licht, gewissermaßen als Tiefland zeigte: der (später) so genannte „Anti-Heimatroman“, der mit Thomas Bernhards Texten Frost (1964) und Auslöschung (1986) Anfang und Ende nahm und hier zugleich seine Höhepunkte fand. Hier war die Provinz kein malerischer Ort der Idylle, der Naturverbundenheit und des „ursprünglichen“ Lebens, sondern ein Lokus des Grauens, der Gewalt, gestörter sozialer Beziehungen, Leichen im Keller und verdrängter Vergangenheiten. Es waren meist Entwicklungsromane - doch in ihnen wurde Heranwachsen nicht als Herausbildung eines Menschen erzählt, sondern als bleibende Deformation. Aus - gegebenem Anlass? - hat dieses Genre nun auch in der ostbelgischen Literatur Eingang gefunden. War es letztes Jahr der fulminante Schelmenroman Bosch in Belgien von Freddy Derwahl, so erregte dieses Jahr Unterwegs zu Melsuine das Interesse einer großen Leserschaft in den Ostkantonen. Der Autor, der sich hinter dem Pseudonym „Hannes Anderer“ verbirgt, scheint damit eine kollektive (Aufbruch-)Stimmung wiedergegeben zu haben - und arbeitet bereits an einer Fortsetzung. Der vorliegende Text ist ein Schülerroman, der auch hier an eine populäre deutschsprachige Tradition anschließt, an Werke wie Robert Musils Zögling Törless oder Friedrich Torbergs Schüler Gerber. Erzählt wird aber nicht nur die Schulzeit des Ich-Erzählers in St. Vith und Montenau, sondern auch die Geschichte seiner Familie vor und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Anderers Roman ist sprachlich kantiger und amateuristischer, aber vielleicht noch aufrichtiger als Derwahls Text. So braucht er in philosophisch abschweifenden Exkursen ganze 16 Seiten, um mit seiner Geschichte zu beginnen; dies hätte bei einem größeren Verlag wohl kaum ein Lektor durchgehen lassen. Hält der Leser durch, wird er freilich nicht enttäuscht. Generalthema ist die schonungslose Abrechnung des Ich-Erzählers mit seiner Zeit am katholischen Internat nach dem Zweiten Weltkrieg. Hier werden er und seine Mitschüler nicht nur ins kalte Wasser einer fremden Sprache (Französisch) gestoßen, sondern auch in die Perfidie eines ausgeklügelten Disziplinierungssystems, das bei ihm Bettnässen, Rheuma und nervöse Magenscherzen hervorruft - abgesehen von den unerträglichen Schuldgefühlen, die den Heranwachsenden quälen. Dieses Klima der seelischen Versklavung im Namen der „Una Sancta Catholica et Apostolica Ecclesia“ wird nur durch einige Lichtblicke gebrochen; aufflackernde Freundschaften, Radtouren, aber vor allem durch die Begegnung mit der Künstlerin Else, die in der Schule ein Fresko malen soll. Sie ist es, die dem Modell sitzenden schamhaften Schüler ihren nackten Frauenkörper zeigt, den ersten seines Lebens - und in phantasmatischen Szenen wie diesen erreicht der Roman eine merkwürdige Intensität. Dass diese kurzen Glücksmomente nicht überhand nehmen, dafür sorgt unter anderem der sadistische Lehrer Prosper, dessen mögliche pädophile Neigungen angedeutet werden. Erst spät findet der Protagonist einen Ausweg in seiner „gottlosen“ Lektüre; bei Nietzsche, aber auch Texten des französischen Existenzialismus sucht er Trost - mit dem Effekt, dass die Repression gegen ihn noch stärker wird. Rückblickend wird der Ich-Erzähler resümieren: „Meine Vergangenheit sah ich nur negativ als eine Zeit der psychischen Qualen, der Verunglimpfung, der Domestizierung, in der alles Eigene und Besondere unterdrückt und zugedeckt werden musste. Die dämonische Figur der Pubertätszeit war Prosper, dessen richtender Blick mich entmündigte. Davor war es das Elternhaus, das mich mit seiner hilflosen Gottesfurcht lähmte und mir die Luft zum Atmen nahm. Dabei waren meine Mutter und mein Vater an diesen Umständen nahezu schuldlos, da sie selbst Opfer der religiösen Indoktrination waren.“ Diese harte wie genaue Kritik wird nicht nur das katholische Schulsystem Ostbelgiens als seine wahre Geschichte akzeptieren müssen. In ihm werden sich auch viele Leser aus anderen Landesteilen, ja auch aus anderen deutschsprachigen Regionen jenseits der Grenze wieder erkennen. Wohl bleiben andere politische Aspekte - wie etwa die Involvierung Ostbelgiens und seiner Bevölkerung in die Zeit der NS-Herrschaft - eher unterbelichtet (im Gegensatz zu Freddy Derwahl). In jenem Punkt indes trifft der Text voll sein Ziel: den „Eifel-und-Ardennen-Gott“. Trotz des Mangels an Gelegenheit ist der Weg des Protagonisten aber auch ein „chercher la femme“ - repräsentiert im Typus der Melusine aus Fontanes Stechlin, die irritiert und reizt zugleich „mit ihrer Intelligenz, ihrer Ironie und ihrer Schlagfertigkeit.“ Ob das Unterwegssein des Protagonisten ihn aus der unerträglichen Enge seiner Jugend an dieses Ziel bringen wird, wird wohl Anderers geplante Romanfortsetzung zeigen. Inzwischen mag der Leser mit den Worten Tinas, einer anderen Frauenfigur aus dem Text, denken: „Bubi, du bist ein komischer Vogel! Aber ich mag dich! Lass uns weitergehn!

Clemens Ruthner, Wien

Hannes Anderer, Unterwegs zu Melusine, Sonnenberg Verlag Annweiler, 2007, 377 Seiten, 19,80€



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