Im selben Jahr. in dem Celans dritte Gedichtsammlung
("Sprachgitter") erschien, 1959, kam auch als erste
wissenschaftliche Untersuchung die von Wilhelm Emrich in Köln
betreute Dissertation des aus dem ostbelgischen St. Vith stammenden
Jean (Johann) Firges unter dem Titel "Die Gestaltungsschichten
in der Lyrik Paul Celans ausgehend vom Wortmaterial" heraus. Es
ging dabei um die kategoriale Bestimmung des Einzelworts in den
beiden ersten Lyrikbänden: "Mohn und Gedächtnis"
(1952) und "Von Schwelle zu Schwelle (1955). Der junge
Verfasser ergänzte seine produktive Pionierarbeit durch eine
wichtige poetische Standortbestimmung. Den Hinweis des Dichters
aufgreifend, vertrat Firges die - nicht zuletzt im zeitlichen
Kontext der üblen Plagiatsvorwürfe Claire Golls -
wichtige, sachlich klärende These, daß die dichterische
Arbeit Celans nichts zu tun habe mit dem literarischen Surrealismus
und dessen 'ecriture automatique'. Er setzte diese Auffassung sogar
seinem anders argumentierenden Doktorvater gegenüber durch.-
Danach folgte noch ein kurzer Beitrag in der Zeitschrift
'Muttersprache' unter der Überschrift "Sprache und Sein in
der Dichtung Paul Celans" (1962). Dabei blieb es für lange
Zeit.
In der Folge widmete sich Firges Themen aus dem Umkreis seiner
Tätigkeit als Professor für französische Sprache und
Literatur an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Wir
verdanken ihm Untersuchungen zu Pascal, Anouilh, Sartre, Teilhard de
Chardin sowie zur Landeskunde und Fremdsprachendidaktik. Das
Interesse am Werk Paul Celans blieb jedoch die ganze Zeit hindurch
wach. jetzt ist als Frucht dieser über vier Jahrzehnte hindurch
anhaltenden Beschäftigung mit den Gedichten Celans und der
anschwellenden Literatur zu seinem Werk eine zweite längere
Arbeit entstanden. Sie ist, wie der Untertitel sagt, als
"Einführung in die Lyrik Paul Celans" gedacht.
Ausgehend von der Todeserfahrung Celans (darum der Titel
"Den Acheron durchquert ich"), interpretiert Firges rund
80 Gedichte und ordnet sie vier, seiner Ansicht nach prägenden
Motivkreisen zu: Reise, Tod, Traum, Melancholie. Er betrachtet sie
als "die wichtigsten 'Problem-Zonen' der Lebens- und
Leidenserfahrung des Autors" (19). Mit gleichem Recht
hätte er allerdings andere organisierende Kraftfelder Im
lyrischen Kosmos des Werkzusammenhangs ausmachen können. Denn
zweifellos sind Metaphern und Motive wie Auge. Sand, Baum. Schatten.
Eis. Kristall. Licht. Liebe oder Sexualität gleichfalls als
konstitutiv anzusehen. Ganz zu schweigen davon, daß neben dem
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Eingedenken auch Ironie, Sarkasmus, Obszönität.
Zynismus und Blasphemie Integrale Bestandteile des
Gestaltungsverfahrens sind. Vermutlich wäre es darum besser
gewesen. Reise. Traum und Melancholie dem durchgängig
vorwaltenden Motiv des Todes zuzuordnen und dessen zentrale
Bedeutung damit sachgerecht herauszustellen.
Entscheidend für die Art des hermeneutischen Angangs ist
das Eingangskapitel über "Die Dunkelheit der Lyrik Paul
Celans und wie man mit ihr umgehen kann" (1119). Dabei setzt
der Verfasser zunächst ziemlich unklar an. indem er die
Celansche Dunkelheit vorübergehend in die Nähe von
"Mystik" (14) und "Rätselstrukturen" (16)
rückt, was den Intentionen des Dichters vollkommen
zuwiderläuft. Erst die konkrete Textarbeit am Beispiel des
Gedichts "Mövenküken" (15-18) bringt Firges dann
- in Anlehnung an die einschlägige Sondierung durch Joachim
Schulze - auf den methodisch richtigen Weg erhellter 'Dunkelheit'.
Mit Recht spricht er hier von "eingehender Interpretation"
(18).
Nach einer knappen Situierung der Landschaft, welcher Celan
entstammt, der Bukowina (20-22), macht der Verfasser sich daran, in
den vier Hauptkapiteln (2362, 63-146. 147-223 und 224-309) das
selbstgesteckte Ziel einer "Einführung in die Lyrik Paul
Celans" einzulösen. Naturgemäß ist das kein
leichter Weg. Der sorgfältig ausgearbeitete Durchgang durch das
Werk unter dem Gesichtspunkt der genannten vier Motivkreise ist
ersichtlich das Resultat gründlicher Werkkenntnis und breiter
Erfassung der Literatur über Celan. Daß Firges sich
hierbei vielfach auf die Ergebnisse "der vielen
Wissenschaftler" stützt, ..die sich ... um die Deutung der
Celanschen Lyrik bemüht haben" (19), ist ein überaus
sympathischer Zug. zumal er den jeweiligen Zunftgenossen durchweg
fair, ja sogar in aller Regel anerkennend begegnet. Dergestalt
gewinnt sein gewagtes Unternehmen eine solide Grundlage, die ihn
wiederum befähigt, seinen Lesern wirklich "die Scheu vor
der Dunkelheit des Autors zu nehmen" (19).
Die vier Hauptkapitel des Buches gestalten sich zu einer
ergiebigen Entdeckungsreise durch das Gesamtwerk Celans. Firges
verfährt dabei jeweils diachronisch, so daß der Leser
einen weitreichenden Überblick über und insbesondere
erhellenden Durchblick durch sämtliche Entwicklungsstufen der
Lyrik Celans gewinnen kann. Merkwürdig freilich, warum der
Verfasser Klaus Voswinckels überaus einleuchtenden Begriff von
der "Entpoetisierung der Welt" als "nicht
glücklich
|
gewählten Terminus" ansieht (29 f.). Die
Negativität seines Weltbilds hat ja den Dichter erst dazu
gebracht, sein ästhetisches Programm zunehmend der erfahrenen
Negativität anzupassen und damit die "poetische Aura der
Lyrik" zu verabschieden, also den anfänglich noch
wirksamen Einfluß Rilkes und Trakls preiszugeben. Diese
Unklarheit gegenüber Entscheidungen Celans für
"Hör- und Sehreste und damit für eine skelettierte
lyrische Form ist der einzige Bereich des Buches. der mich
einigermaßen hungrig und durstig läßt. Denn im
Endeffekt erweist sich die Lektüre In vielfacher Hinsicht als
überaus anregend und bereichernd. Gleichgültig, ob es sich
um die Bedeutung der Mutter für Celans dichterische
Anfänge, um Einflüsse Mandelstams oder Heideggers handelt,
ob intertextuelle Bezüge oder historische. biologische oder
geologische Anspielungen hergeleitet werden. gelingt es Firges
vortrefflich, die selbstgesteckte Maxime einzuhalten, "Celan
von Innen" (19) her zu begreifen und dementsprechend zu
erklären.
Das ist, nimmt man alles in allem, gewiß eine
beachtliche Leistung. Zudem aber ist das Buch dann auch noch einfach
und klar, aber ebenso sicher und souverän geschrieben. Für
den Leser ist das eine überaus angenehme Erfahrung, zumal
derlei zur seltenen Qualität geworden ist. Mag man einzelnen
Interpretationen nicht in vollem Umfang folgen, sie haben allemal
den Vorteil innerer Schlüssigkeit und Konsequenz für sich.
Vor allem aber macht Firges dem Leser an keiner Stelle etwas vor,
sondern läßt ihn teilhaben am Erkenntnisprozeß
seiner Auseinandersetzung mit den Texten. Für die Gedichte
Celans ist das von substantieller Bedeutung. Insgesamt ist somit das
neue Buch des Celan-Forschers der ersten Stunde ein großer
Gewinn für die immer noch ausstehende Verbreitung des
Celanschen Werkes über die bisherige Lesergemeinde hinaus. Das
Ist weit mehr vonnöten als endlose Weiterungen der ohnehin kaum
mehr zu überblickenden Sekundärliteratur zu Celan, die
Inzwischen auf über 3000 Titel angewachsen ist. So gesehen
verdanken wir Firges einen Schlüsselbeitrag zur
Rezeptionsgeschichte des zweifellos schwierigsten Autors der
Literatur seit 1945.
Theo Buck
- Vier Motivkreise der Lyrik Paul Celans: die Reise,
der Tod, der Traum, die Melancholie. Stauffenburg Verlag
Tübingen 1998
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