Jean Firges: Schwarze Sonne Schwermut. Die Melancholie als
kreative und destruktive Kraft in Leben und Dichtung Paul Celans.
Salman Abbas
Als einer der bekanntesten Nachkriegslyriker bietet Paul Celan auch
heute noch viele Ansätze für eine Auseinandersetzung. Sein
eigenartiger Stil und seine besondere Verfahrensweise im Umgang mit
Themen wie ‚Tod‘ und ‚Erinnerung an die Toten‘
bleiben auch Jahrzehnte nach dem Holocaust eine Herausforderung
für den Leser. Aber der düstere Schatten der ewigen Trauer
kennzeichnet nicht nur seine Werke, sondern auch sein persönliches
Leben, wie Jean Firges in seiner Studie Schwarze Sonne
Schwermut. Die Melancholie als kreative und destruktive Kraft in Leben
und Dichtung Paul Celans beschreibt.
Jean Firges (geb. 1934) beschäftigt sich seit vielen Jahren mit
Paul Celan und dessen Gedichten. Er wurde schon 1959 mit einer Arbeit
über dessen Lyrik promoviert und schrieb seitdem immer wieder
über Paul Celan1.
In dieser Studie arbeitet Firges die Züge der Schwermut und
die Präsenz der Melancholie in Celans Gedichten heraus, indem er
zunächst die Entwicklung der Schwermut, verstärkt durch den
Verlust der Mutter, im Leben Celans skizziert und diese dann auch in
der imaginären surrealistischen Dichtung wiederfindet. Die im KZ
Czernowitz getötete Mutter verwandelt sich zur Paranoia. Der
unbewältigte Verlust kulminiert – zusammen mit den
Plagiatsvorwürfen während der Gollaffäre –
schließlich in Wahnsinnsanfällen und Amokläufen.
Die Untersuchung dieser Paranoia und der Lyrik unter dem Einfluss
der Krankheit unternimmt Firges mit Hilfe der „systemischen
Theorie“. Die Publikation ist hervorgegangen aus einer
Abschlussarbeit über Systemische Therapie und Beratung. Ein
großer Teil des Buches widmet sich dem Leben Celans, seinem
Familienhintergrund und seiner Kindheit. Dabei stellt sich die Frage,
inwieweit die Untersuchung des Phänomens ‚Melancholie‘
mithilfe des Instrumentariums der systemischen Theorie relevant ist
für die Literaturwissenschaft.
Das erste Kapitel ist sehr autobiographisch; beschrieben wird
Celans Vater Leo Antschel in der Rolle eines rigorosen Orthodoxen und
die Mutter Fritzi als liebevolle und fürsorgliche Bezugsperson, zu
der der Sohn eine tiefe emotionale Verbindung aufbaut. Jean Firges ist
der Meinung, dass im Wesentlichen die Mutter-Sohn-Beziehung zur
Entwicklung des melancholischen Gemütszustands Celans führte.
Anhand der Familienkonstellation – dem strengen und distanzierten
Vater einerseits, der fürsorgenden und kulturell interessierten
Mutter andererseits – weist Firges Ansätze eines
ödipalen Verhältnisses nach Freud nach: Mit dem Tod seiner
Mutter erhielt Celan ein verlorenes Liebesobjekt, in dem er den
gesamten Schmerz und das Elend des jüdischen Volkes sammeln
konnte. Diese „mehr als eine Mutter-Sohn Beziehung“ trug,
so Firges, zu der Entwicklung seines melancholischen Temperaments bei.
Demnach suchte die empfindliche Natur Celans nach einem Ausweg im
Imaginären, in der Traumwelt, um der realen und banalen Welt des
Vaters zu entkommen.
Im zweiten Kapitel verbindet Firges das Phänomen der
Melancholie bei Celan mit Julia Kristevas Begriff der Allegorie.
Allegorie als Abstraktion kennzeichnet einen Ort des verborgenen
Wissens, d.h. der Melancholie.
Als eine Figur der Melancholie wird die Mutter im dritten Kapitel
wieder aufgenommen und zugleich abstrahiert. Mit Hilfe verschiedener
Beispiele stellt Firges die Mutter Celans als das einzige Trauerobjekt
in fast allen Gedichten dar. Gedichte wie Der Reisekamerad, Vor
einer Kerze und Espenbaum sind Beispiele, die die These von
Firges unterstützen. Die Mutter-Imago in den behandelten Gedichten
Regennacht, Im Schlangenwagen oder Verworfene
nimmt den Gedichten nicht notwendig ihre Vieldeutigkeit. Durch die
Einbeziehung mythischer Elemente, die Ausdeutung von Metaphern und
Chiffren beantwortet die Analyse der Gedichte auch
literaturwissenschaftliche Fragestellungen.
Ähnlich wie in Celans Lieblingsgedicht El Desdichado, von
Gérard de Nerval, ist die Mutterfigur nicht nur als seine eigene
Mutter anwesend, sondern vertritt alle Opfer des Holocausts. Da die
Mutter schon tot ist, überquert der Dichter wie Orpheus den Fluss
Acheron, um sie aus dem Hadesland, dem Land der Toten, ins Leben
zurückzubringen. Firges arbeitet die Veränderungen im Umgang
Celans mit der Schwermut heraus: Während in seinen Jugendgedichten
eine romantische Aura vorherrscht, wird in den späteren Gedichten
spürbar die Gefahr der Schwermut, da sie in den Wahnsinn und in
die Aggression treibt. Die Melancholie, zunächst ein Ventil
für Klage und Trauer, verwandelt sich zur Paranoia:
„Die Melancholie ist, wir sagten es bereits, eine ambivalente
Erscheinung. Ihre positive Seite ist die schöpferische Kraft, die
von ihr ausgeht. Sie veranlasst das schwermütige Individuum, zum
Künstler zu werden, d.h. eine künstliche Ersatz- und
Gegenwelt zu entwerfen und damit das imaginäre Schöne zu
schaffen. Hier fehlt aber die Verwurzelung in der realen Welt, aus der
die Lebenskraft kommt. Das ist die negative Seite der Melancholie: Sie
zerstört die Lebenskräfte des Körpers, sie greift die
Gesundheit an und ruht nicht eher, bis sie ihr Zerstörungswerk
vollendet hat. Am Ende steht immer der ausgebrannte Geist oder der
sieche Körper.“ (S. 137)
Die Paranoia, die vielleicht wegen des Mangels an Verwurzelung in
der realen Welt erzeugt wurde, verstärkte sich während der
Gollaffäre. Die Plagiatsvorwürfe von Yvanne Goll, der Ehefrau
eines Pariser Freundes, hatten einen sehr negativen Einfluss auf Celan.
Firges schildert den Skandal sehr genau in diesem Band und vermittelt
eine andere Perspektive im Vergleich zu Barbara Wiedemann, der
Herausgeberin von Celans Werken und Briefen. Die Affäre wird
erklärt im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen Celan und
Claire Goll. Firges beschreibt Goll als „‘femme
fatale’ der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts“, die
intime Beziehungen zu vielen Künstlern gehabt habe. „Dieser
welterfahrenen Frau steht Celan, der Ostjude aus ärmlichsten
Verhältnissen und ohne Welterfahrung, gegenüber. Ein
ungleiches Paar!“ (S. 76) Nach dieser Affäre befand Celan
nur noch wenige Menschen für vertrauenswürdig. Der Band
erzählt eine Reihe von Episoden, in denen er schon wegen einer
„falschen“ Interpretation eines Gedichtes oder aufgrund des
Empfindens ungenügender Unterstützung von Seiten seiner
Freunde während der Gollaffäre an deren Treue zweifelte. Das
Buch endet mit der Beschreibung verschiedener Amokläufe und
Wahnsinnsanfälle, die Celan in den letzten Jahren seines Lebens in
Paris erlebt hatte und die auch seine Familie tief verletzt hatten.
Die Gollepisode ist in diesem Buch nicht nur ein Teil der
biographischen Studie Celans, vielmehr erscheint sie als Beschleuniger
oder gar Auslöser seiner Paranoia und wird daher ausführlich
behandelt. Das Buch liefert ein Krankheitsbild mit Hilfe der
systemischen Theorie. Die Frage bleibt aber, wozu braucht man eine
Analyse des Temperaments eines Dichters, der als einer der wichtigsten
Poeten der Nachkriegsliteratur bekannt ist? Das Buch hilft den Lesern
in zwei wichtigen Punkten: Jean Firges beschäftigt sich mit einem
Thema, das die Leute normalerweise vermeiden. In dem literarischen
Diskurs wird Melancholie häufig als eine Abweichung vom konformen
Denken, als Ersatz für eine Ideologie verstanden. Die Studie
untersucht Melancholie jedoch als eine Eigenschaft Celans, die ihm
für seine Dichtung eine kreative Energie gegeben hat. Firges
stellt somit die Dichtung Celans in einem neuen Licht dar. Neu ist auch
der Versuch einer interdisziplinären Herangehensweise, die
Verbindung von Systemischer Theorie und literaturwissenschaftlicher
Analyse. Höchst Aufschlussreich ist allerdings Firges
Resümee, das im Grunde zugibt, dass die Gedichte dennoch
‚funktionieren‘, also keinerlei ‚Behandlung‘
bedürfen.
„Für mich besteht das größte Rätsel
der poetischen Kreativität Celans darin, dass ich trotz der
Paranoia, die seine Existenz vernichtete, in keinem seiner Gedichte
eine Trübung seines Denkens feststellen kann. […] –
höchste Luzidität, gepaart mit einer kaum zu
übertreffenden Sprachbeherrschung.“ (S. 175)
Folglich könnte man sich den autobiographischen Diskurs
über therapeutische Ansätze im Grunde auch sparen. Da aber
Firges die Melancholie, zentriert auf das Mutter-Sohn-Verhältnis
zu konkretisieren und zugleich zu abstrahieren versteht, kommt für
das Verständnis der einzelnen Gedichte immerhin einiges heraus.
1. Vgl. u.a. Paul Celan: Die Beiden Türen der
Welt: Gedichtinterpretation. Annweiler am Trifels: Sonnenberg 2001; Den
Acheron durchquert ich. Eine Einführung in die Lyrik Paul Celans.
Vier Motivkreise der Lyrik Paul Celans: die Reise, der Tod, der Traum,
die Melancholie. Annweiler am Trifels: Stauffenberg 1999.
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