Tageszeitung: Südkurier, 29.4.2000, Walter Kayser
Dichtung als Gedächtnis
Ein Buch erhellt die dunklen Gedichte des Paul Celan
Innerhalb der Gruppe von Hermetikern, die mit immer
"kühneren" Metaphernballungen sich dicht an die
Randzonen des Sagbaren herantasteten, gilt Paul Celan als besonders
unzugänglich. Die "Todesfuge", jenes Jahrhundertgedicht
über den Holocaust, hat Eingang in alle Lesebücher gefunden
aber darüberhinaus ist der Dichter, der in einer Aprilnacht 1970
sein Leben beendete, ein Autor für Experten.
Jean Firges Buch ist von einem Geistesverwandten geschrieben. Der
Verfasser, Professor der Romanistik, ist wie Celan selbst immer ein
Grenzgänger zwischen den beiden Literaturen gewesen. Er hat den
Dichter anläßlich seiner Promotion im Jahre 1959
kennengelernt und nunmehr seit vierzig Jahren mit Anteilnahme über
seine Verse nachgedacht. Diese profunde Kenntnis ist auf jeder Seite zu
spüren. Ein weiterer Vorzug: Das Buch folgt nicht etwa der
Chronologie des Werkes, das von Veröffentlichung zu
Veröffentlichung von, der „starken Neigung des Gedichts zum
Verstummen" zeugt. Vielmehr wird mit den zentralen Motiven von
Reise, Tod, Traum und Melancholie der Horizont des Verstehens
abgesteckt.
Gerade die Bildkraft von Symbolen war es ja, die der Dichter
gegen die Leidenserfahrung setzte. Für uns Leser ergibt sich so
die Möglichkeit, in immer neuen Tiefenbohrungen in die
abgründige Welt der Celanschen Lyrik, vorzudringen. Die
konzentrischen Kapitel setzen sich wiederum aus vielen kleinen
Bausteinen in Form von nicht weniger als 80 Einzelinterpretationen
zusammen. Sie sind mit poetischen Chiffren des Dichters
überschrieben und entfalten so ein gleichsam schwebendes Netz von
sich verdichtenden Bezügen. Die Ausdrucksweise des Verfas-sers
zeugt von der souveränen Leichtigkeit, die wohl erst ist, wenn man
mit dem Gegenstand seiner Untersuchung derart vertraut ist.
Wir erfahren von Celans Neigung, intertextuell mit versteckten
Zitaten zu arbeiten, von seinem Verhältnis zum französischen
Symbolismus und Surrealismus, zur ostjüdischen Kabbala, vor allem
von der alles prägenden Bindung an die Mutter, die 1943 irgendwo
in einem Todeslager ermordet wurde. - Für den Kenner als eine
Summe, für den interessierten Laien als
„Einführung" unbedingt zu empfehlen.
WALTER KAYSER
Jean Firges: „Den Acheron durchquert ich“.
Einführung in die Lyrik Paul Celans 321 S. Stauffenberg Verlag,
Tübingen.
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